Betreff
Überblick über die rechtlichen Neuerungen durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz
Vorlage
2023/0972
Art
Sitzungsvorlage

Diese Angelegenheit wurde bereits behandelt im

Jugendhilfeausschuss am 10.06.2021, TOP 8ö

 

Das Kinder– und Jugendhilferecht im Sozialgesetzbuch-Achtes Buch (SGB VIII) wurde durch das Gesetz zur Stärkung von Kinder und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG) vom 03.06.2021 fachlich reformiert.

Durch das KJSG ergibt sich eine Stärkung der Rechtsstellung von jungen Menschen und Eltern. Der thematische Fokus liegt insbesondere auf folgenden Schwerpunkten, die nachfolgend kurz skizziert werden:

Schützen - Besserer Kinder- und Jugendschutz

Die Zusammenarbeit im Kinderschutz soll optimiert werden. Es wird beispielsweise eine engere Kommunikation zwischen Ärztinnen/Ärzten und dem Jugendamt ermöglicht und Fachkräfte, die das Jugendamt über gewichtige Anhaltspunkte für eine Kinderwohlgefährdung informieren, sollen eine Rückmeldung dazu erhalten. Künftig werden Schutzkonzepte für Kinder und Jugendliche in Pflegefamilien entwickelt und angewandt. Die Heimaufsicht wird verschärft, sie kann Einrichtungen auch ohne konkreten Anlass kontrollieren und wird damit wirkungsvoller. Auslandsmaßnahmen werden auch vor Ort kontrolliert. Wenn die gesetzlichen Anforderungen nicht eingehalten werden, wird die Maßnahme unverzüglich beendet. Der Austausch der Behörden soll verbessert werden. Zudem ändern sich die Anforderungen in Betriebserlaubnisverfahren bzw. werden um weitere Kriterien ergänzt.

Stärken - Stärkung von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien und Einrichtungen der Erziehungshilfe

Die Situation für junge Menschen nach Volljährigkeit wird verbessert. Sogenannte „Careleaver“ werden besser begleitet und können bei Schwierigkeiten in die Kinder- und Jugendhilfe zurückkehren. Die bis 31.12.2022 gültige Regelung zur Kostenbeteiligung, wonach junge Menschen bis zu 25 Prozent ihres Einkommens aus Ausbildung oder anderen Tätigkeiten an das Jugendamt abgeben mussten, wenn sie in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe oder in einer Pflegefamilie leben, wurde zum 01.01.2023 abgeschafft.

Werden Hilfen außerhalb des Elternhauses gewährt, haben Eltern nach § 37 SGB VIII einen Rechtsanspruch auf Unterstützung und Förderung der Beziehung zum Kind. Auch die Zusammenarbeit der Eltern mit den Pflegeeltern wird durch den neu eingeführten § 37a SGB VIII verbindlicher gefördert.

Helfen - Hilfen aus einer Hand für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen

Kinder- und Jugendhilfe soll künftig inklusiv gestaltet werden. Die Umsetzung soll schrittweise erfolgen. Zunächst sollen ab dem 01.01.2024 die sogenannten Verfahrenslotsen ihre Arbeit aufnehmen (vgl. § 10 b SGB VIII).  Das Jugendamt soll Eltern von Kindern mit Behinderungen durch die Verfahren der unterschiedlichen Leistungssysteme lotsen: Sie bekommen im Jugendamt eine verlässliche Ansprechperson, die sie begleitet. Hierdurch sollen Familien, die für ihre Kinder Unterstützung und Hilfen beantragen, entlastet werden. Das Tätigkeits- und Anforderungsprofil des Verfahrenslotsen wurde erst kürzlich auf der gesamtbayerischen Jugendamtsleitertagung Ende April 2023 vorgestellt und wird durch eine Handlungsempfehlung des Bayerischen Landesjugendamtes noch ergänzt.

Ab dem 01.01.2028 ist das Jugendamt für alle Kinder und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen zuständig (vgl. §§ 10, 10 a SGB VIII). Diese „inklusive Lösung“ muss allerdings noch durch ein Bundesgesetz geregelt werden.

 

Unterstützen - Mehr Prävention vor Ort

In Notsituationen haben Eltern einen Anspruch auf Unterstützung bei der Betreuung und Versorgung des im Haushalt lebenden Kindes, wenn der Elternteil, der die Betreuung überwiegend sicherstellt, ausfällt und das Wohl des Kindes nicht anderweitig gewährleistet werden kann. Diese Unterstützung soll niedrigschwellig zur Verfügung gestellt werden und sich nach dem Bedarf im Einzelfall richten. 

Beteiligen - Mehr Beteiligung von jungen Menschen, Eltern und Familien

Unabhängige Ombudsstellen werden gesetzlich verankert. Sie beraten die Familien bei Streitfragen und klären Konflikte mit dem Jugendamt. Kinder und Jugendliche in Einrichtungen der Erziehungshilfe bekommen die Möglichkeit, sich bei externen Stellen zu beschweren. Das gilt auch für Pflegekinder in Familien. Kinder, Jugendliche und Eltern sollen bei Inobhutnahmen besser informiert und aufgeklärt werden. Ferner erhalten Kinder und Jugendliche einen eigenen Beratungsanspruch, ohne die Eltern. Die Fachkraft im Jugendamt muss dafür nicht mehr prüfen, ob eine Not- oder Krisenlage vorliegt. Die öffentliche Jugendhilfe soll zudem selbstorganisierte Zusammenschlüsse von z.B. Leistungsberechtigten oder Interessenverbänden anregen und fördern.

Aktueller Umsetzungsstand

Im Kreisjugendamt Ebersberg werden die zur Umsetzung der SGB VIII-Reform erforderlichen Handlungsbedarfe in den jeweils zuständigen Fachgebieten laufend geprüft. Handlungsnotwendigkeiten werden priorisiert und sukzessive umgesetzt. Darüber hinaus tauschen sich die Leitungen der oberbayerischen und gesamtbayerischen Jugendämter kontinuierlich zu den Themen aus.

Zudem wurden erste Maßnahmen aus der SGB-VIII Reform umgesetzt:

·         bereits vor Einführung der SGB VIII-Reform wurden junge Menschen nach Vollendung ihrer Volljährigkeit nach den neuen gesetzlichen Vorgaben versorgt. Die bis 31.12.2022 gültige Regelung zur Kostenbeteiligung wurde zum 01.01.2023 abgeschafft.

 

·         01.03.2021 - Förderung der Ombudsstelle durch das Bayerische Landesjugendamt im Rahmen eines Modellprojekts:


Die Ombudsstelle ist mit Ausnahme des Landkreises München für alle oberbayerischen Jugendämter zuständig. Organisatorisch ist die Ombudsstelle an die Sozialen Dienste des Diakonischen Werks Rosenheim angebunden. Dadurch soll eine Unabhängigkeit von den trägereigenen Jugendhilfeangeboten, die in der Marke „Jugendhilfe Oberbayern“ organisiert sind, sichergestellt sein.

 

·         Juni 2021 - Erstellung und Einsatz eines Schutzkonzepts für Kinder und Jugendliche in Pflegefamilien:

Das vom Kreisjugendamt Ebersberg entwickelte Konzept dient der Region 18 (Zusammenschluss der Jugendämter Altötting, Berchtesgadener Land, Miesbach, Mühldorf, Rosenheim Stadt und Land sowie Traunstein) seither „als Blaupause“ für die Erstellung eigener Konzepte.

 

·         Juli 2021 - Abschluss neuer Kinderschutzvereinbarungen gemäß § 8a SGB VIII mit allen Kindertagespflegepersonen

 

·         seit Mitte 2021 erhalten Eltern, deren Kinder in Pflegefamilien untergebracht sind, auch in anderen Jugendamtsbezirken Beratungsleistungen nach § 37a SGB VIII. Daneben werden den Pflegeeltern seit jeher umfassende Beratungsleistungen, Supervisions- und Fortbildungsmöglichkeiten sowie gemeinschaftliche Veranstaltungen angeboten.

 

·         hinsichtlich des gesetzlich vorgesehenen Verfahrenslotsen besteht ein enger Austausch zur Stadt und dem Landkreis Rosenheim, die als Modellregion bereits über einen Verfahrenslotsen verfügen. Sofern der Kreistag der beabsichtigten Stellenmehrung zustimmt, kann der Verfahrenslotse im kommenden Jahr seinen gesetzlichen Auftrag im Kreisjugendamt Ebersberg aufnehmen.

 

 Fazit

Als Fazit lässt sich festhalten, dass die im Rahmen der SGB VIII-Reform vorgenommenen Anpassungen an vielen Stellen zielführend und zeitgemäß erscheinen. Die mit der Gesetzesanpassung angestoßene Weiterentwicklung der Jugendhilfe in Richtung einer einheitlichen (inklusiven) Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen, aber auch Elemente wie die Stärkung von Beteiligung und Selbstbestimmung, die Etablierung von Ombuds- und Selbstorganisationsstrukturen, die Fokussierung von Schnittstellen und Übergängen und auch ein moderneres Familienbild stellen wichtige Grundlagen für die zukünftige Praxis dar. Für die Jugendhilfe im Landkreis Ebersberg gilt, dass viele der neu justierten Regelungen bereits in der Vergangenheit Anwendung gefunden haben. Gleichwohl ist zu erwarten, dass die Weiterentwicklung einzelner Aufgaben in der Praxis (z.B. bei der Einführung von Verfahrenslotsen und bei der Realisierung der „inklusiven Lösung“) entsprechender Ressourcen bedarf.

Dem Jugendhilfeausschuss wird folgender Beschluss vorgeschlagen:

Der Bericht über die SGB VIII-Reform sowie der aktuelle Planungs- und Umsetzungsstand zu den daraus resultierenden Änderungen werden zu Kenntnis genommen.

 

 

 

Auswirkung auf den Haushalt:

Die im Gesetzentwurf prognostizierten finanziellen Mehrbedarfe in Höhe von 113,8 Mio. Euro

für Länder und Kommunen entsprechen den Ergebnissen der Arbeitsgruppe „Quantifizierung und Statistik“ im Beteiligungsprozess 2019, dürften aber nach Einschätzung des Deutschen Landkreistages und der kommunalen Praxis im Ergebnis erheblich höher ausfallen. Der Deutsche Landkreis geht in einem Schreiben vom 15.02.2021 davon aus, dass Mehrkosten von mindestens 200 Mio. Euro pro Jahr für Länder und Kommunen anfallen. Die durch die vielfältigen Änderungen im SGB VIII steigenden Anforderungen an Beratung, Koordinierung und Vernetzung werden überdies erhebliche Auswirkungen auf die Fallzahlen und die Personalbemessung in der Jugendhilfe haben. Dazu kommen umfangreiche neue Komplexanforderungen auf die Fachkräfte zu. Auch Anforderungen an die Aus- und Fortbildung sind nicht zu vernachlässigen. Damit diese Mehrkosten von den Ländern ausgeglichen werden können, forderte der Deutsche Landkreistag den Bund dazu auf, einen Finanzierungsweg zu finden, wie die Länder in dieser Höhe entlastet werden. Alternativ müsse nach Auffassung des Deutschen Landkreistages ein Weg gefunden werden, wie der Bund die Kommunen in entsprechender Höhe entlastet.

 

Dies gilt in besonderem Maße, weil mit der spätestens 2028 in Kraft tretenden Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe auch für Kinder und Jugendliche mit Behinderung weitere finanzielle Belastungen, die noch nicht zu beziffern sind, auf die Landkreise zukommen werden. Hinzu treten finanzielle Verschiebungen innerhalb der Länder, da die Zuständigkeit für Kinder und Jugendliche mit Behinderung z.B. in Bayern auf Bezirks- und Kommunalebene organisiert ist.

 

Viele Weichenstellungen, z. B. bei den verbesserten Angeboten für junge Erwachsene nach dem Verlassen der stationären Jugendhilfe, der Reduktion der Kostenheranziehung, der Ausbau der Beratungsstrukturen und die Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe werden unmittelbar zu einem Anstieg der Ausgaben in den Hilfen zur Erziehung und zu Personalmehrungen führen. Zur Realisierung der verbesserten Beratungs- und Unterstützungsangebote werden die Planungs- und Beratungsleistungen sowie gesetzlich verpflichtende Fortbildungen intensiviert werden müssen. Die kommunalen Spitzenverbände haben daher zu Recht einen vollständigen Ausgleich der kommunalen Mehrbelastungen gefordert.